Corona 2020 – ein verlorenes Jahr?

Überraschungsangriff – ein Virus lähmt das Leben

Horrorfilme spielten schon lange mit der Katastrophe, Wissenschaftler in ihren Szenarien auch, doch daran geglaubt hat keiner. Aber das Virus kam über die Menschheit, einem Dämon gleich, und weist die moderne Zivilisation in ihre Schranken. Medizin und Politik stoßen an Grenzen, verhängen Kontaktverbote und Beschränkungen, appellieren an die Vernunft der Gesellschaft. Doch die Realität läuft tatsächlich ab wie im Plot eines Horrorstreifens – auf der einen Seite die Masse an Unvernünftigen, Uneinsichtigen und Ungeduldigen, die sehenden Auges in die Katastrophe rennt, auf der anderen Seite der mahnende Wissenschaftler, dem keiner so richtig zuhört. Was den Film allerdings vom wahren Leben unterscheidet, ist: In der Wirklichkeit gibt es kein Happy End. Der strahlende Held, unser aller Retter, ist nicht in Sicht. Das Warten auf ein wirksames Medikament oder einen Impfstoff wird zur Geduldsprobe für alle. Aus der anfänglichen Solidarität und Hilfsbereitschaft erwachsen nach und nach Verdrängung und Egoismus. Die Hamsterkäufe waren bereits die unschönen Vorboten des menschlichen Überlebenstriebs.

Das tödliche Unbekannte – Urängste keimen auf

Das Virus ist ein Frontalangriff, nicht nur auf unsere Gesundheit. Urängste werden wach gegenüber dem Unbekannten, das potenziell tödlich sein kann. Auf die Angst reagiert der Mensch wie stets – mit Verharmlosung und Übertreibung. Verharmlosung und Übertreibung liegen dicht beieinander. Was für die einen eine herkömmliche Grippe ist, ist für andere gleich die Apokalypse. Es sind Extrempositionen, die durch Mythen und Legenden ein absolut erfolgreiches Framing betreiben. Und nur so in die Köpfe dringen – denn in einer überreizten Welt finden ausschließlich Superlative die nötige Aufmerksamkeit. Schade, denn man würde der Vernunft gerne dieselbe Wirkung wünschen. Doch dem Virus und den dadurch ausgelösten Bedrohungsängsten ist nur schwer mit Vernunft beizukommen. Das ist in jeder Krise so – Katastrophen sind emotionale Ausnahmesituationen, die emotionaler Antworten bedürfen. Damit tut sich die rationale Wissenschaft natürlich schwer, auch die um Wahrung von Interessen bemühte Politik ist dabei eher ungelenk, und so gedeihen irrationale Geschichten und Gefühle.

Wirtschaft – die Basis der Zivilisation bricht weg

Mit Corona wurde das öffentliche Leben nahezu auf Null gefahren. Die Leidtragenden in der Wirtschaft sind vor allem jene, die im direkten Kontakt mit Menschen ihr Geld verdienen. Einiges kann in die digitale Welt verlagert werden, aber eben nicht alles: Handel, Dienstleistungen, Tourismus, Gastronomie, Hotellerie und Events. Virtuelle Live-Übertragungen, Video-Konferenzen, Bring- und Abholservice sowie Hotelzimmer als Home-Office auf Zeit können den Verlust, der aus dem nötigen Verzicht entsteht, nicht auffangen. Der Staat versucht zu helfen, sogar Selbstständige und Kleinunternehmer finden dieses Mal Berücksichtigung. Die Krise zeigt, wer nun tatsächlich systemrelevant ist. Nicht der Banker, der seinen Kunden mit Spekulationen zu möglichst steuerfreiem Vermögen verhilft, sondern Mediziner, Pflegepersonal, Reinigungsservice, Müllabfuhr, die Kassiererin im Supermarkt und viele mehr, die vorher so gut wie keine Lobby hatten. Doch Geld steht auch dem Staat nicht unbegrenzt zur Verfügung und nach der Krise, in der von der Wirtschaft nur noch ein Rest übrig sein wird, wird es schwer sein, die Löcher in der Staatskasse zu schließen. Der Staat wird zugreifen müssen: Nicht mehr nur Arbeit, Gewinne und Zinsen, sondern auch Privatvermögen werden zur Besteuerung dann herangezogen. Das Argument: Es ist schließlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und das ist auch so. Doch der Verteilungskampf wird zur erbitterten Schlacht, denn der Geldbeutel – das habe ich als Banker gelernt – ist die verletzlichste Körperstelle des Menschen.

Lern-Prozess – das Gute und die Wahrheit

Krisen bieten stets eine Fülle an wertvollen Erkenntnissen. Und beschleunigen einen (oftmals längst überfälligen) Wandel. Auch Corona. Sinn-Fragen: Auf was kommt es tatsächlich an? und: Wie wollen wir wirklich leben? sind unvermeidlich. Und richtig. Trends zeichnen sich schon ab, wie die Re-Regionalisierung globaler Wertschöpfungsketten, die Digitalisierung vieler Arbeitsbereiche oder die De-Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Hinzu kommen Konsumfragen, wie: „Was brauchen wir tatsächlich für ein glückliches Leben?“ Man mag hoffen, dass diese Sinn- und System-Fragen bleiben, auch nach der Krise, wenn alles wieder zur herkömmlichen Normalität strebt. Da wird es dann auch einen immensen Nachholungsbedarf geben, der alles vergessen lässt und welcher der Wirtschaft durchaus neue Wunderjahre bescheren kann. Doch – wann wird das sein? Und wer wird es bis dorthin schaffen? Das kann keiner beantworten. Es hängt von zwei Faktoren ab: Der eine ist die Vernunft der Menschen in der gegenseitigen Achtsamkeit. Darauf setzen würde ich nicht, man blicke nur aus dem Fenster, gehe in den Park oder zum Einkaufen. Der zweite Faktor sind Medikament und Impfstoff. Letzterer braucht wohl 1 Jahr oder mehr. So gehört vermutlich zur Wahrheit, dass wir bis Anfang/Mitte 2021 warten müssen, bis wir von einer neuen Normalität sprechen können. Und dass die Wirtschaft bis dahin massiv einbrechen wird, scheint ebenso unausweichlich. Alles, was früher zu einer Entspannung beiträgt, ist wünschenswert. Und darauf hoffe ich. Erzwingen kann das niemand. Auch ein neuer Kanzlerkandidat nicht.

Zuversicht – Arrangement mit der Sehnsucht

Die Sehnsucht nach einem normalen Leben bleibt. Sie wird täglich größer. Und macht ungeduldig. „Ungeduld hat häufig Schuld“, dichtete schon Wilhelm Busch. Mir geht es genauso. Auch ich bin ungeduldig. Ich vermisse die Menschen, meine Bekannten, Freunde, meine Kunden. Und natürlich meine Familie. Ich sehne mich nach Nähe, Dialog, Umarmung. Nach Geselligkeit. Und auch als Autor habe ich es wirtschaftlich schwer, weiß nicht, ob ich es schaffen werde. Neben diesen Sorgen sitzt auch mir wie vielen anderen die Angst im Nacken – ich bin 57 Jahre alt und bereits zweimal an Hautkrebs erkrankt. Pollen und Blütenstaub machen mir zusätzlich zu schaffen, ebenso die schlimmen Nachrichten und die Ungewissheit, wie es weitergeht. Dass jeder Mensch, der einem begegnet, ein potenzielles Gesundheitsrisiko ist, diese Gewissheit lässt mich zusätzlich erschaudern. Aber ich will und darf nicht ungeduldig werden. Denn trotz allem gilt, aus Verzicht und Verlust keine Verbitterung werden zu lassen, sondern Zuversicht und Vorfreude. Der Mensch ist immer dann am leistungsfähigen, wenn es ums Überleben geht. Krisen haben ihn stets gestärkt. Hierfür haben wir mächtige Verbündete: Lernfähigkeit, Fantasie, Kreativität, Mut, nicht zuletzt die Fähigkeit zur Kooperation. Die Globalisierung mag den Virus überall hingetragen haben, aber es ist auch die globale Zusammenarbeit, die uns helfen wird. Und noch eines haben wir auf unserer Seite – lassen sie mich es zum Schluss poetisch sagen: Die Gegenwart meistern wir täglich aufs Neue, denn die Zukunft ist als Hoffnung in unseren Herzen.

Ihr Oliver W. Schwarzmann

Bild: Hillie Chan