Murrhardt: Stufen zum Himmel
Zugegeben – wenn man im fortgeschrittenen Alter über Kindheit und Heimat spricht, wird es schnell romantisch.
Man denkt an die aufregenden Eindrücke und unbeschwerten Erlebnisse, gesehen durch die neugierigen und besonders wachen Augen eines Kindes.
Zudem ist man in jungen Jahren dem Fantastischen und Märchenhaften noch aufgeschlossen.
Und da sind wir am Ausgangspunkt.
Murrhardt, ein märchenhaftes „Städtle“, schön eingebettet im Schwäbischen Wald, ist meine Heimat, mein Kindheits- und Jugend-Ort.
Der Platz, an dem ich ins Leben trat und aufgewachsen bin, begleitet von einer mehr als warmherzigen Oma, liebevollen Eltern und guten Freunden.
Wenngleich ich mich in der Schule meist als Fremdkörper gefühlt hatte – ein Träumer und Fantast in der Provinz eben.
Wobei Murrhardt mit großen Künstlern aufwarten kann, sei es Reinhold Nägele, Heinrich von Zügel und nicht zuletzt Trude Schüle, die meine Kunsterzieherin war.
Guter Nährboden also, aber als rebellischer Jugendlicher wird einem das Landleben schnell zu eng.
Bevor es allerdings losging mit dem Auszug in die weite Welt, der mich bis nach Hawaii führen sollte, absolvierte ich noch eine Ausbildung zum Banker an der damaligen Raffeisenbank im Schwäbischen Wald eG.
Ein biederer Banker?
Nun ja, ich wollte schon immer Schriftsteller werden – aber nachdem der Arbeitsamt-Berater (ja, so hieß das noch seinerzeit) an unserer Schule auf diesen Berufswunsch überzeugend erklärte: „Bub, das ist ein brotloser Job“ meinte meine Mutter, es sei doch klug, zunächst zu den „Herren mit den weißen Hemden“ auf die Bank zu gehen. Geschickt gelegen gleich um die Ecke.
Es lebe der sanfte Druck naheliegender Möglichkeiten!
Und ok, ok … nach anfänglichem Fremdeln mit den Krawatten und der peniblen Bürokratie, konnte ich dem Thema „Finanzen“ durchaus etwas abgewinnen.
Wobei ich gerne zu hemdsärmeligen Arbeiten im bankeigenen Haus- und Gartenmarkt herangezogen wurde.
Gruselige Randnotiz: Während meiner Bankausbildung trieb der bekannte „Hammermörder“ in unserer Gegend sein Unwesen und alle Banken im Umkreis waren in Alarmbereitschaft, denn die waren das Ziel seiner Beutezüge. Mit einem Vorschlaghammer zertrümmerte er die Scheiben zum Kassenraum und langte zu.
Angst hatte ich keine, in meiner jugendlichen Selbstüberschätzung als Fechter, Kraft- und Kampfsportler dachte ich, ich würde dem schon eins überbraten, wenn er denn mit seinem Hammer angedonnert käme.
Zu dieser Mutprobe kam es zum Glück nicht.
Die Pilgertreppe
Unweit meines Elternhauses liegt die ehrwürdige Walterichskirche und der Friedhof auf einer Anhöhe, nein, kein Hügel, wie gelegentlich gemeint wird, eigentlich schon ein Berg, kann man durchaus sagen, vor allem, wenn man ihn wie wir Kinder damals zur Schlittenabfahrt benutzte.
In der Kirche erlebte ich meine Konfirmation, ungeduldige Gottesdienste vor der Geschenkbescherung an Heiligabend und einige Konzerte als CVJM-Mitglied.
Ansonsten gab es vor der Kirche in Blickrichtung auf den davor liegenden Stadtgarten eine Sitzbank unter einem gigantischen Baum, an der wir uns zu ersten Rendezvous trafen. Völlig verschüchtert und harmlos, in grausigen Klamotten und mit fürchterlichen Haarmähnen, wie eben zu jener Zeit, den 1970er Jahren, üblich.
In den letzten Jahren erzählten mir meine Eltern von dem Vorhaben, die Pilgerstaffel wieder auferstehen zu lassen, die sich einst schon mal 900 Jahre lang an jenem Hügel, nein Berg, hinaufschwang und wegen Brüchigkeit Ende der 1940er Jahre abgerissen werden musste.
Sünder gäbe es ja zuhauf, vermutlich mehr denn je, und da wäre so eine Reue-Treppe schon nützlich.
Zudem böte sie einen wunderbaren Aufgang – nicht direkt zum Himmel, aber doch empor zur Walterichskirche nebst „Ölberg“ an der Kirchenaußenseite, der außergewöhnliche Schnitzereien aus dem 16. Jahrhundert zeigt, die den Leidensweg Christi darstellen.
Ein „Must-See“, vor allem an Ostern.
Immer wieder habe ich Murrhardt besucht, um den Fort-Tritt der Pilgertreppe zu beobachten und zu dokumentieren.
Es sollte im November 2020 eine Einweihung geben, Corona bedingt leider verschoben, wie so vieles.
Doch das Fernsehen war schon da gewesen und interviewte Rolf Schweizer, treibende und stimmgewaltige Kraft hinter dem Projekt sowie Besitzer des ortsansässigen Carl-Schweizer-Museums, in welchem er als Präparator und Heimatkundler einen eigenen Kosmos aus Landschaftsszenen und römischen Artefakten geschaffen hat.
Spuren Letzterer finden sich viele in Murrhardt – die rührigen und expansionsfreudigen Jungs aus Italien haben hierzulande viele Zeugnisse hinterlassen, wie bspw. ein Römer-Bad oder den weltbekannten Grenzwall „Limes“, der ganz in der Nähe verlief.
Nicht zuletzt ist Murrhardt auch noch eine mittelalterliche Klosterstadt, eine Kulisse, fast wie aus einem Umberto Eco Roman.
Mit italienischen Eisdielen.
Nun, beim Fernsehbericht durften meine Eltern sogar kurz ins Bild und einmal die Pilgerstaffel hoch- und runterlaufen, nach mehrmaligem Üben, wie das beim Fernsehen eben so ist. Obwohl die Beiden nichts zu bereuen haben, auch nicht mein Vater, welcher 1960 der Liebe wegen aus der Weltmetropole München ins überschaubare Murrhardt emigrierte und mit der Zeit das unaufgeregte Dorfleben zu schätzen gelernt hat. Wobei er sich nach wie vor auf einer Mission wähnt als Vertreter der bajuwarischen Lebenskunst, Bayern-Flagge vor dem Haus, Heimweh und Sehnsucht dorthin inklusive. Meine Mutter besänftigt das seit jeher mit dem Auftischen bayrisch inspirierter Küche. So bin ich zwischen Spätzle und Semmelknödeln groß geworden.
„Nun geschafft also!“, kann man dann jetzt wie oben ausrufen.
Sie steht endlich erneut am Berg, die Treppe, dank großzügiger Geldgeber – bereit für Büßer und Besucher, denn eine Sehenswürdigkeit ist sie schon.
Auch ein Vermächtnis ihrer Möglichmacher und Umsetzer.
Wie habe ich einmal für eine UNESCO-Welterbestätte geschrieben: „Die Vergangenheit formt unsere Geschichte, das Denkmal unser Gedächtnis.“
Und wer weiß, vielleicht führen die Stufen der Pilgerstaffel ja doch in den Himmel.
Zumindest in den landschaftlichen.
Denn der Blick von der Walterichskirche über den Stadtgarten hin zur historischen Stadtmauer (an welcher ich mir einst als Kind beim Sprung von derselben meinen linken Fuß brach) und dem Hexenturm hat schon etwas … nun … nicht nur Beschauliches … ja mehr … etwas Paradiesisches.
Man fühlt sich dem Himmlischen doch ein Stück näher.
Da ist sie wieder, die Romantik, die einen beim Gedanken an Heimat und Jugend so leicht und so gerne befällt.
Zu Recht, würde ich sagen.
Euer OWS
PS: Bild und weitere Infos bekam ich dankenswerterweise vom Bürgermeister der Stadt Murrhardt – Herr Armin Mößner.
Hier noch ein paar nützliche Links: